Seit PISA und anderen bildungspolitischen Ereignissen hat sich ein stärker konstruktivistisch geprägter Lernbegriff in unserer Gesellschaft durchgesetzt.

Lernen wird nun als eigenaktiver, konstruktiver und kommunikativer Prozess des Wissenserwerbs der Lerner verstanden. Damit rückt das lernende Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung. 


Aus dieser Perspektive wird der Wissenserwerb der Lernenden also als individuelle Konstruktionsleistung beschrieben. 
Dennoch kann eine erzielte Lernleistung der Lernenden nicht allein als das Ergebnis  der Lerner begriffen werden, das  wäre eine zu starke Verkürzung eines komplexen Vorgangs. Viele Akteure wirken beim Lernen zusammen.

Konsequenzen für Lehrende:

Betrachten Lehrende das Lernen als einen nachhaltigen, konstruktiven und interaktiven Prozess,  an dem sie als Lernprozess-Arrangeur ganz entscheidend beteiligt sind, so hat dies unweigerlich Auswirkungen auf die Konzeption und Gestaltung des Lehrens.

Bei der traditionellen Rollenverteilung stand die Lehrkraft im Mittelpunkt. Sie vermittelte den Lernstoff kraft ihrer didaktischen und methodischen Kompetenzen an die Lernenden. Beim autonomen, selbstgesteuerten Lernen haben die Lehrenden kaum noch direkten Einfluss mehr auf den Prozess der Wissensaneignung und der Kompetenzerweiterung der Lernenden. Die Lerner eignen sich den Stoff selbst an. Das ist nicht neu, das war auch früher beim Lernen schon der Fall. Aber heute weiß man es genau und muss als Lehrkraft entsprechend handeln. 

Aber auch beim selbstgesteuerten Lernen haben Lehrkräfte eine tragende Rolle, nämlich die Rolle eines Lernberaters. Die wichtigste Aufgabe der Lehrkraft besteht beim selbstgesteuerten Lernen in der Schaffung von geeigneten Lern-Settings. Darunter fasst man alle Rahmenbedingungen der Lernzugänge. Beispielsweise kann es sich um multimedial aufbereitete e-Learning-Kurse handeln, die im Internet zur Verfügung gestellt stehen oder aber um eine vorbereitete Lernumgebung, die mit einem Wochenplan erarbeitet wird.

Karl Fisch, a high school administrator at Arapahoe High School in Littleton, Colorado, sieht Unterricht im Jahr 2020 so:
“The rigid bell and class schedules of the past are gone, replaced by a much richer and more robust learning experience. Students are part of a vast learning network, which includes - but is not limited to - their physical classmates. Students are no longer constrained by a rigid curriculum, but are free to pursue a much higher level of inquiry. All students are responsible for mastering the essential learnings and for interacting with a wide range of ideas, and must demonstrate their knowledge on a regular basis in order to receive feedback on their learning and growth. But they are also free to pursue their passions, to truly take charge of their own learning , to take their education to a level rarely seen before.”

 

 

Die gesellschaftliche Funktion der Schule

 

 

Funktionen der Schule als Institution

Die Schule hat als gesellschaftliche Institution immer eine Doppelaufgabe.

1. Optimale Förderung des Individuums im Rahmen seiner Möglichkeiten
    und
2. Ausbildung von "Humankapital" als Grundlage unseres Lebensstandards.

Diese beiden Aspekte lassen sich wiederum nach 6 Unterkategorien unterteilen:


I.   Demokratisierungs-Funktion,
II.  Qualifikations-Funktion,
III. Selektions- und Allokations-Funktion,
IV.  Regenerations- und Reproduktions-Funktion,
V.   Edukative Funktion
      und
VI. Kontroll- und Schutz-Funktion.

So ergeben sich als Aufgaben der Schule nach Funktion:


1. I:   Durch staatsbürgerliche Erziehung: Bewusstmachung von politischer Mitverantwortung am Schicksal unseres „Staates“, Ermunterung zu Wahlbeteiligung, Parteienmitgliedschaft...

1. II: Ausstattung der Schüler mit Voraussetzungen zu späterer Berufstüchtigkeit bzw. professioneller Kompetenz.

1. III: „Schulkarriere“ als eine Lebenschance, als ein schicksalhafter, persönlicher  Erfolgsfaktor ( > sozio-ökonomischer Status im späteren Leben ).

1. IV:Enkulturation als Teilhabe der Schüler an der kulturellen Tradition, kulturelle Partizipation als eine zentrale Komponente persönlicher Bildung.

1 .V: Wertorientierung – Moralerziehung – Erziehung zu sittlich wertvollen Persönlichkeiten Personalisation = Ermöglichung von personaler Identität und Individualität.

1. VI:„Schulleben“: Schule als Lebenswelt besonderer Art ( kind- und jugendgemäß ), Beratung und Lebenshilfe, Aufbau und Einübung von persönlicher Lebenskompetenz

2. I: Hinführung zu Menschenrechten, zu Meinungsfreiheit, Parteienpluralität, Verhinderung von totalitärer Diktatur, von dauerhaften Gewaltmonopolen, von politischer Willkür und Rechtlosigkeit.

2. II: Sicherung des Bedarfs der Gesellschaft an tüchtigen, leistungswilligen Fachkräften,  Spezialisten, Führungspersönlichkeiten.

2. III: Sortierung von Schülern, Zuweisung von beruflichen Positionen nach dem Leistungsprinzip.

2. IV: Stabilisierung der Gesellschaft durch Tradierung konservativer Kultur- und Wissensüberlieferungen ( z.B. Sprache, Kultur, Mentalität, Sitten, Weltanschauung eines Staates).

2. V: Integration der Gesellschaft durch sozial angepasste, sozialisierte, gesittete Bürger mit Verantwortungsbewusstsein für öffentliche Belange.

2. VI: Anwesenheitskontrolle, Aufbewahrung, Behütung und Aufsicht von Kindern und Jugendlichen laut gesetzlichem Jugendschutz, zeitlich begrenzte Entlastung der Familien,
insbesondere der berufstätigen Eltern (z.B. Ganztagsschule).

Manche dieser Zielsetzungen sind direkt gegenläufig, was vielen Lehrkräften im Beurteilungsverfahren von Lernenden große Probleme bereitet. 
Damit befinden sich Lehrkräfte sehr oft in einer ganz typischen Dilemma- Situation.

 

Vom Unterricht zur Gestaltung von Lehr- / Lern-Szenarien

Lehrkräfte sind Bedienstete des Staates und Repräsentanten der Gesellschaft, die dafür zuständig sind, Unterrichtsstunden zu halten und junge Menschen auszubilden. Sie sind durch ihren Bildungsauftrag dem Individuum des Lernenden und der Gesellschaft gleichermaßen verpflichtet.

Betrachten Lehrende das Lernen aus einer konstruktivistisch geprägten Position heraus, befinden sie sich in einer äußerst schwierigen Situation. Der Organisationsrahmen von Schule ist ganz eindeutig vom Vermittlungs-Paradigma geprägt. Die Schule ist als "Verteilungsorganisation von Wissen" konzipiert worden. Eine ausgebildete Lehrkraft vermittelt ihr Wissen an die Lernenden über den Unterricht, den sie konzipiert und durchführt.

Wenn Wissen aber nicht "vermittelt" werden kann, sondern nur angestoßen (pertubiert wie Glasersfeld es nennt) werden kann, stehen Lehrende vor dem Problem, bei 20 Lernenden 20 individuell geprägte Lernanlässe konzipieren und gestalten zu müssen. Eine Aufgabe die in der herkömmlichen Organisationsform nicht zu lösen ist.

Was unsere Gesellschaft in dieser Situation braucht, ist das, was man mit dem Begriff der "neuen Lernkultur" umschreibt. Lehrkräfte haben heute die Aufgabe Lernanlässe zu konzipieren und zu gestalten, was mit dem Begriff "Lern-/Lehr-Szenarien" umschrieben wird.  Sie fördern die Lernenden individuell, um dadurch deren Potenziale optimal auszuschöpfen.

Lern-Anlässe lassen sich in vielfältiger Weise konzipieren. (Pattern language) Hier einige Muster:

 

 

Aus konstruktivistischer Sicht müssen nach Auffassung von Gerstenmaier, J. und Mandl,H., (1995) folgende Kriterien für ein tragfähiges Lehr-/Lern-Szenarion gewährleistet sein:

  • Authenzität und Situiertheit: realistische Probleme und authentische Situationen
  • Multiple Kontexte: Wissen bleibt nicht auf einen Kontext fixiert
  • Multiple Perspektiven: Inhalte unter verschiedenen Aspekten betrachten
  • Sozialer Kontext: kooperatives Lernen und Problemlösen in Lerngruppen

Eine neue Lern- und Lehr-Kultur ist der Schlüsselbegriff der "lernenden Organisation Schule". Eine Schule, die sich durch eine neue Lern- und Lehrkultur auszeichent, ist geprägt durch:
- Schülerorientierung,
- alle an Schule Beteiligten sind Lernende und Lehrende zugleich
  und
- Respekt, Verantwortung, Kooperation und Offenheit.

Aspekte einer neuen Lern- / Lehrkultur 

Die Frage ist nun: Wie gelingt es einer Schule, diese neue Lern- Lehrkultur zu implementieren und zu leben?

Maike Krätzschmar, Ammerentie Kletschkowski und Miriam Hellrung von der Universität Hamburg berichten von zwei Gesamtschulen, die in einem Pilotprojekt ihre gesamte Unterrichtsorganisation  der Sekundarstufe I neu strukturiert haben.

Das gesamte Unterrichtsangebot für die Sekundarstufe I besteht aus drei Säulen bzw. drei unterschiedlichen Unterrichts-Szenarien:

Im Lerns-Senario "Projekt" findet fächerübergreifendes und fächerverbindendes Arbeiten in kooperativen Lernformen statt, die an die Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler anknüpfen sollen und lebens- und praxisnah gestaltet werden.
Im Lern-Szenario "Werkstatt" lernen und arbeiten die Schülerinnen und Schüler interessengeleitet im musisch-künstlerischen, handwerklich-technischen sowie sportlichen Bereich.
Im Lern-Szenario "Lernbüro" erfolgt der Erwerb von Basiskompetenzen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch (sowie an einer Schule im Fach Gesellschaft). Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Gesellschaft an Aufgaben, die unterschiedliche Lernzugänge bzw. Lernwege zulassen und auf verschiedenen Kompetenzniveaus liegen. Sie arbeiten mit Hilfe von Wochenplänen bzw. Logbüchern, die ihnen als Planungs- und Strukturierungsinstrumente ermöglichen sollen, ihre eigenen Lernprozesse zunehmend selbst zu planen, zu steuern und zu überwachen. Sie arbeiten anhand von Kompetenzrastern bzw. Bausteinen, in denen die Aufgaben enthalten sind und die ihnen als Orientierungshilfe dienen, um einen Überblick über schon Geleistetes und noch zu Leistendes zu behalten.

 

Mit Hilfe dieses umfangreichen Instrumentariums soll den Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden, ihre jeweiligen Lernprozesse und Arbeitsschritte individuell und eigenverantwortlich zu planen, durchzuführen und zu reflektieren. Hierbei werden sie durch die Lehrerinnen und Lehrer unterstützt und individuell beraten.

 

Ob diese Lösungen so zielführend sind wie sich die Autoren das vorstellen, wird sich  erst noch zeigen müssen.

Sicher ist, dass die bestehenden Organisationsstrukturen ( Fachlehrer-Prinzip, Unterrichts-Taktung im Rhythmus von 45 Minuten usw. ) von Schule neu gedacht werden müssen.

Ohne umfassende Anpassungen der unterrichtlichen Infrastrukturen an die Herausforderungen der Zeit werden die Leistungen des Systems Schule in Deutschland hinter den Erwartungen und Erfordernissen zurück bleiben.

Unter den bestehenden Strukturen und Rahmenbedingungen mit den ihnen zur Verfügung gestellten Hilfsmitteln und Werkzeugen, die dem Bildungssystem des vergangenen Jahrhunderts angemessen waren, können Lehrkräfte die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllen. Sie können nur scheitern, verzweifeln und krank werden.

Wir brauchen eine mutige und zugleich wohldurchdachte Bildungsreform, eine Schul- und Unterrichtspraxis, die bereit ist neue Wege zu gehen, neue Zeitfenster für Unterricht und Erziehung nutzt und neue Methoden und Werkzeuge zukunftsorientiert einplant, um die in unserer Gesellschaft vorhandenen Potenziale auch auszuschöpfen.

 
 

(Lehr-)Filme / Videos als Lernobjekte in Lehr-Lern-Szenarien

Der Einsatz von Videomaterialien im Unterricht ist seit langem beliebt. Beinahe in allen Unterrichtsfächern kommen Videos immer dann zum Einsatz, wenn der Stoff des Lehrplanes vertieft, veranschaulicht oder gefestigt werden soll – ob nun als Naturdokumentation im Biologieunterricht, als Spielfilm im Deutschunterricht  oder Nachrichtensendung im Rahmen der Fremdsprachenausbildung.

 Filme/Videos können das Lernen anschaulicher, verständlicher und leichter machen.

Wenn in diesem Zusammenhang hier das Wort „Film“ gebraucht wird, so meint es nicht den Spielfilm oder den Unterhaltungsfilm, sondern den sogenannten „Lehr-Film“. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er etwas erklären, zeigen, verdeutlichen will. Kennzeichnend ist auch seine Länge, es handelt sich meist um einen Film von 4 bis 5 Minunten Dauer. Diese „Granulat-Struktur“ solcher Video-Lehr-/Lern-Sequenzen eigen sich besonders gut für den Einsatz in Lehr-/Lern-Szenarien.

Wahrnehmungen, Farben, Konturen, Bewegungen und Geräusche sind für den Betrachter realistisch dargestellt.  Bewegte Bilder, Standbilder, Sprache, Musik, Bewegungen können auch verlangsamt oder beschleunigt abgespielt und beliebig oft reproduziert werden.

Ein Film/Video bietet im Vergleich zu den anderen Medien eine Fülle von Informationen und Eindrücken – und gerade deshalb wirft sich aber auch die Frage auf, ob dadurch nicht der Betrachter nur zum passiven Konsumenten gemacht wird.

·  Lässt der rasche Bilderablauf eine tiefere Verarbeitung zu?

·  Zielt die emotionale Wirksamkeit dieses Mediums nicht auch auf Spannung und 
   Unterhaltung ab und weniger auf die kognitiven Aktivitäten von  Lernern?

·  Besteht aufgrund der Realitätsnähe und der Manipulationsmöglichkeit nicht die 
   Gefahr, den Film, Realität und Fiktion  nicht mehr unterscheiden zu können?

 

 

Neue Möglichkeiten, Filme und Videos als Lernmedium einzusetzen, sind so genannte „Hypervideos“.

Hypervideos präsentieren das Medium Film/Video nicht länger als geschlossene Einheit in einem raum-zeitlich vorgegebenen Rahmen und einer vorher festgelegten didaktischen Implikation.

 Hypervideos sind eine besondere Art interaktiver Videos, in denen einzelne Szenen, Bilder oder Bildobjekte mit anderen Videoszenen oder zusätzlichen, externen Informationen oder auch eigenen Anotationen verlinkt werden können.

 Mit Hilfe einer Software steht eine Lösung für die Produktion von Hyper-Videos für den interaktiven Einsatz in Lehr-/Lernplattformen zur Verfügung.

Autoren von  E-Learning-Szenarien werden dadurch in die Lage versetzt, auf einfache Weise auf der Basis von vorhandenem Video-Material interaktive Lerninhalte zu erstellen. Der Nutzer der Anwendung kann sich, ähnlich wie beim hypertext-basierten Lernen, die für ihn relevanten Informationen mit Hilfe der interaktiven Funktionen heraussuchen und je nach verwendeten Interaktionselementen auch aktiv mit dem Video arbeiten.

 Dabei handelt es sich um digitale Videos mit dynamischen Hyperlinks. In solchen Hypervideos können Details im Videofilm mit Zusatzinformationen verknüpft werden, so dass die Nutzer dann Links im Film auswählen und zusätzliche Texte, weitere Videos oder Bilder aufrufen können.

Sobald der Nutzer einem Link folgt, wird der Hauptfilm gestoppt. Das multimediale Lehrmaterial kann durch die Sequenzierung und Verlinkung in einer selbst gewählten Reihenfolge rezipiert werden.

Damit gelangt der rezeptive Betrachter nun in die Rolle des aktiven Produzenten. 
Kritische Fragen an das Medium- wie oben angeführt – können damit positiv beantwortet werden.

 
                            Erweiterungsmöglichkeiten zum Erzählstrang

Im Prozess der Wissensvermittlung und der Wissensaneignung bieten  Hypervideos als Lernobjekte und Lernmedien interessante Anwendungsperspektiven für kollaboratives Arbeiten im Sinne des aktiven und kooperativen Lernens und für das individuelle Arbeiten mit audiovisuellen Formaten zur individuellen Informationsstrukturierung in Blended Learning-Szenarien.

Individuell geprägtes, stärker selbstgesteuertes Lernen ist ein zielgerichteter Prozess - ein bewusstes individuelles Lernen, das sowohl selbstorganisiert (allein oder in Gruppen) als auch in institutionellen Zusammenhängen stattfinden kann.

Zwei Beispiele aus einem Seminar im Rahmen der Lehrerausbildung an der Universität Münster:

Beispiel1: 
Interaktives Video zum Thema "Ebbe und Flut" für den Erdkunde-Unterricht einer Jahrgangsstufe 5

Beispiel 2: 
Interaktives Video zum Erlenen des Felgaufschwungs und des Felgunterschwungs am schulterhohen Reck im Sportunterricht

Beide Beispiele sind für den Einsatz in einer den Präsenzunterricht begleitenden Plattform vorgesehen.