Unser deutsches Schulsystem aus der Kaiserzeit ist wenig leistungsfähig, benachteiligt bestimmte Gruppen von Heranwachsenden, macht krank und verstößt gegen geltendes Arbeitsrecht der EU
 

Deutschland hat mit dem Pisa-Schock hart zu kämpfen.  Unsere Schüler haben so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor“, titelte die Bild-Zeitung vom 6.12.2023.

„Das Schulsystem macht krank – Schüler:innen und Lehrer:innen gleichermaßen“, ist die Aussage einer Lehrerin, die im März 2022 die Entlassung aus dem Staatsdienst beantragt hat, weil sie die gesundheitlichen Überlastungserscheinungen nicht mehr ertragen wollte.(Quelle:https://www.news4teachers.de/2022/05)
Das deutsche Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte ist „ungerecht, unflexibel, ineffizient und tendenziell überlastend“, hat jüngst ein Gutachten der Telekom Stiftung gezeigt.
(Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland  2016/17, IVC DS 1932-5(15)5)

 

Was ist los mit unserem deutschen Schulsystem, das in der Vergangenheit so oft als Modell gepriesen wurde?

 

Entstehung der System-Architektur des heutigen, deutschen Schulwesens

Das deutsche Bildungswesen ist in seinen Grundstrukturen seit der Kaiserzeit, über die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus  bis zur Bundesrepublik Deutschland nahezu gleich geblieben.


 
                            Abbildung 1: Schema-Darstellung des 3gliedrigen Schulsystems

 

Die geschaffenen Strukturen sind das Ergebnis der Umsetzungs-Bemühungen der Bildungs-Bürokratie von pädagogischen Konzepten, die zur Entstehungszeit in der Gesellschaft prägend sind.
Ein pädagogischer Ansatz umfasst die Gesamtheit der Grundlagen, Überzeugungen, Werte, Normen, Ziele und Methoden, die strukturbildend und handlungsleitend für die gesamte Bildungs-Architektur sind. Er bildet das ganzheitliche Struktur-Konzept, die pädagogische Planung, die Raumgestaltung bis hin zum Materialangebot von Bildungseinrichtungen.

 
 
                                                        Abbildung 2: Rahmenbedingungen von Schule

 

 

Funktionen der Schule als Institution in der Gesellschaft

Die Schule hat als gesellschaftliche Institution immer eine Doppelaufgabe zu erfüllen.


1. Optimale Förderung der nachwachsenden Individuen der Gesellschaft im Rahmen seiner ihm eigene Potenziale
     und
2. Ausbildung des notwendigen "Humankapitals" als Grundlage des gesellschaftlichen Lebensstandards.

Aus diesen beiden Zielsetzungen lassen sich wiederum nach 6 Unterkategorien ableiten:


Schulen haben eine ...

I.   Demokratisierungs-Funktion,
II.  Qualifikations-Funktion,
III. Selektions- und Allokations-Funktion,
IV.  Regenerations- und Reproduktions-Funktion,
V.   Edukative Funktion
     und
VI. Kontroll- und Schutz-Funktion.

 

So ergeben sich zwangsläufig eine ganze Reihe von Aufgaben der Schule:

•.Durch staatsbürgerliche Erziehung: Bewusstmachung von politischer Mitverantwortung am Schicksal unseres „Staates“, Ermunterung zu Wahlbeteiligung, zur Parteienmitgliedschaft… 
•.Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit den notwendigen Voraussetzungen zur späteren Berufstüchtigkeit bzw. professionellen Kompetenz. 
•.„Schulkarriere“ als eine Lebenschance, als ein schicksalhafter, persönlicher
      Erfolgsfaktor ( > sozio-ökonomischer Status im späteren Leben ). 
•.Enkulturation als Teilhabe der Schüler an der kulturellen Tradition, kulturelle
Partizipation als eine zentrale Komponente persönlicher Bildung. 
•.Wertorientierung – Moralerziehung – Erziehung zu sittlich wertvollen Persönlichkeiten 
•.Personalisation = Ermöglichung von personaler Identität und Individualität. 
•.„Schulleben“: Schule als Lebenswelt besonderer Art ( kind- und jugendgemäß ), Beratung und Lebenshilfe, Aufbau und Einübung von persönlicher Lebenskompetenz 
•.Hinführung zu Menschenrechten, zu Meinungsfreiheit, Parteienpluralität, Verhinderung von totalitärer Diktatur, von dauerhaften Gewaltmonopolen, von politischer Willkür und Rechtlosigkeit. 
•.Sicherung des Bedarfs der Gesellschaft an tüchtigen, leistungswilligen Fachkräften, Spezialisten, Führungspersönlichkeiten. 
•.Sortierung von Schülern, Zuweisung von beruflichen Positionen nach dem Leistungsprinzip. 
•.Stabilisierung der Gesellschaft durch Tradierung konservativer Kultur- und Wissensüberlieferungen ( z.B. Sprache, Kultur, Mentalität, Sitten, Weltanschauung eines Staates). 
•.Integration der Gesellschaft durch sozial angepasste, sozialisierte, gesittete Bürger mit Verantwortungsbewusstsein für öffentliche Belange. 
•.Anwesenheitskontrolle, Aufbewahrung, Behütung und Aufsicht von Kindern und Jugendlichen laut gesetzlichem Jugendschutz, zeitlich begrenzte Entlastung der Familien, insbesondere der berufstätigen Eltern (z.B. Ganztagsschule). 
 

Diese Aufgaben erfuhren im Laufe der Geschichte des Schulwesens immer wieder neue Interpretationen, in Abhängigkeit von den jeweiligen, aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen.

 

1809 wurde im preußischen Berlin ein zentrales Amt für Schul- und Bildungsfragen eingerichtet. Leiter der Reformen wurde Freiherr Friedrich Karl von und zu Stein. Er holte Wilhelm von Humboldt nach Berlin und ernannte ihn zum Chef des Unterrichtsministeriums. Zunächst kümmerte man sich aber nur um das höhere Schulwesen, um die künftigen Eliten der Gesellschaft zu rekrutieren.

 
                                                                     Abbildung 3: Die Gesellschaftsschichten in der Kaiserzeit (Quelle: sofatutor.com)

Die zunehmende Industrialisierung brauchte ein großes Heer an Arbeitskräften, das in der Lage war, die sich rasch entwickelnde Mechanisierung zu handhaben und weiter zu entwickeln. Deshalb wurden zum Beispiel Heirats-Restriktionen aufgehoben, die Freizügigkeit der Menschen erweitert und eben öffentliche Schulen eingerichtet, die nun auch über Steuergelder finanziert wurden. Die Schulen richtete sie strukturell ein nach ökonomischen Kriterien auf der Grundlage der herrschenden pädagogischen Konzeptionen von Schule.

 

Das höheres Schulwesen war durch zwei Aspekte charakterisiert:


Selektionsfunktion:
Die in einer staatlich kontrollierten Prüfung nachgewiesene Schulbildung wurde zur notwendigen Voraussetzung akademischer Ausbildung und staatlicher Beamtenkarrieren.

Allgemeinbildung:

Die künftigen „Eliten“ in Staat und Gesellschaft wurden philologisch ausgebildet, Allgemeinbildung war das Ziel, in Abgrenzung von jeder (berufsbezogenen) Spezialbildung.

 

Dadurch wurden gleichzeitig drei Ziele verwirklicht:

• Die Loyalität der durch Bildung aufgestiegenen Beamtenschaft wurde erzeugt
 und gesichert.

• Die Qualifikation der ‚führenden’ Schichten wurde in staatlichen Institutionen
erzeugt und durch den Staat kontrolliert.

• Die erfolgreiche Teilhabe an höherer Bildung ermöglichte den Söhnen des
Bürgertums, in Konkurrenz zu dem bis dahin privilegierten Adel zu treten und
sich dadurch aus den bis dahin engen Standesgrenzen zu
befreien(Egalisierung).

 

Der Unterricht in preußischen Gymnasien umfasste fünf Schulstunden am Tag. Damals dauerte die Stunde noch sechzig Minuten. Der Unterricht begann um acht Uhr dauerte bis elf Uhr im Vormittags-Unterricht und ging zwei Uhr bis vier Uhr im Nachmittagsunterricht, und das von Montag bis Samstag. Die Schüler mussten mittags drei Stunden lang ohne Aufsicht auf den Nachmittagsunterricht warten oder oft lange Wege nach Hause und zurück bewältigen.
Die Lehrer klagten über die geringe Aufnahmefähigkeit beim Nachmittagsunterricht, die Schüler seien mehr mit dem Verdauen des Mittagessens beschäftigt als mit der Aufnahme neuen Stoffes. Am 2. Oktober 1911 führte dann der damalige preußische Bildungsminister August von Trott zu Solz per Erlass den 45-Minuten Rhythmus ein. Das hatte gleich mehrere Vorteile, denn man wollte den Stoff nicht reduzieren, verdichtete ihn einfach und konnte so den gesamten Unterricht in den Vormittag legen.


Diese zunächst als Provisorium geplante Regelung, gilt auch heute noch. Die 45 Minuten-Stunde wurde auch zum Maß der Arbeitszeit-Verpflichtung für alle Lehrkräfte, die ebenfalls bis heute 25 oder 28 Unterrichtsstunden in der 45-Minuten-Einheit pro Woche als Unterrichtsverpflichtung (Deputat-Modell) auferlegt bekommen. Alle übrigen Arbeiten der Lehrkräfte wurden vom Umfang her als so gering betrachtet, dass ihr kein eigenes Maß an Arbeitszeit zugestanden wurde.

 

Das niedere Schulwesen wurde dann ab 1872 durch Bestimmungen des Staates geregelt, mehrklassige Volksschulen eingerichtet und ein fachlich ausgerichteter Lehrplan eingeführt.

 

Neben dem Schulunterricht verbesserte sich auch die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer wesentlich. Zuvor fand der Unterricht insbesondere auf dem Land durch sogenannte Schulmeister statt, die keine spezifische Ausbildung erhalten hatten, im Hauptberuf ein Handwerk ausübten oder nebenbei einen Acker bestellten, weil sie von dem Gehalt alleine kaum leben konnten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden dann zur Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer spezielle Lehrer-Seminare gegründet. Zudem wurden sie erstmals vom Staat eingestellt, bekamen in den Schulhäusern freies Wohnrecht und auch ihr Gehalt stieg.
Frauen (daher die Bezeichnung: Fräulein=Lehrerin), die den Lehrberuf ergreifen wollten, mussten ledig sein und mussten bei einer Heirat aus dem Dienst ausscheiden.

 

Die Prinzipien hinter diesen Entscheidungen lauteten:

 

Wichtig ist die Herausbildung einer staatstragenden, loyalen Führungsschicht über die Schulform Gymnasium.

Der Status eines Gymnasiallehrers orientierte sich am Status eines Richters hinsichtlich der Studienanforderungen und der darauf aufbauenden Besoldung.

 

Das niedere Schulwesen erhielt weniger öffentliche Förderung und Anerkennung. Die Ausbildungsanforderungen waren geringer - nicht universitär – und erfolgten  über Lehrer-Seminare.

Das Prinzip lautete:
Größere, ältere und begabte Schülerinnen und Schüler brauchen umfangreicher ausgebildete und besser bezahlte Lehrkräfte.

Kleinere, jüngere und weniger begabte Schülerinnen und Schüler brauchen auch nur wenig gut ausgebildete Lehrkräfte, wegen der geringeren inhaltlichen, fachlichen  Anforderungen.

 

Was ist das „Deputats-Modell?

Das deutsche Arbeitszeitmodells für Lehrkräften weist eine festgelegte Zahl an Unterrichtsstunden pro Woche zu,  Pflichtstunden oder auch Unterrichtsstunden-Deputate.

Die Höhe des jeweiligen Deputats wird nach Lehrämtern (die grob den

Schularten entsprechen) differenziert: je „höher“ das Lehramt, desto niedriger das Deputat.

 

In der Folge ist die Pflichtstundenzahl für Lehrkräfte in Deutschland an Gymnasien am

niedrigsten und an Grundschulen am höchsten.
Diese Grundstruktur der Lehrkräftearbeitszeit besteht als sogenanntes Deputat-Modell seit circa 150 Jahren unverändert.
Lediglich die Unterrichtsstunde mit 45 Minuten ist etwas jünger: Zu Beginn

wurde regelmäßig in 60-Minuten-Einheiten unterrichtet, erst 1911 führte Preußen die

sogenannte Kurzstunde mit 45 Minuten ein, die sich später dann auch in der Weimarer

Republik durchsetzte und bis heute dominiert.

 

Verständnis vom Lernen und Lehren in der Kaiserzeit

 

Lernen als Übernahme (Kopie) von Wissen, Können und Fertigkeiten

Seit Menschengedenken hatte man die kommenden Generationen nach dem Meister-Schüler–Modell (durch Vormachen, Wiederholen und Üben)  auf die Übernahme von Verantwortung ausgebildet. Lernen und Lehren verstand man als Übertragungsprozess, als Kopierprozess.

Eine Lehrkraft wurde unter staatlicher Aufsicht als Multiplikator von Wissen und Können ausgebildet und übertrug anschließend das erworbene Wissen und Können auf die Schülerinnen und Schüler. Damit dies einigermaßen erfolgreich gelingen konnte, musste man die Lerngruppen möglich homogen - hinsichtlich Alter, Begabung und Geschlecht - zusammenstellen. Das sicherte das Ziel,  dass vorgesehene Wissensinhalte von einer Mehrzahl der Lernenden in der vorgesehenen Lernzeit, unter Verwendung einer Methode aufgenommen werden können.

Ein Modell, das der industriellen Produktion entsprach. (Das Ausgangsmaterial von einer gleichbleibenden Qualität kann - in kleinschrittige und arbeitsteilige Produktionsprozesse zerlegt - zu einem großen Produktionsvolumen bei geringen Produktionskosten führen.)

Der Entwicklungsprozess vom Kind zum Erwachsen wurde als Reifungsprozess verstanden, so dass man die Heranwachsenden in altersgleiche Gruppen aufteilte, getrennt nach Geschlechtern und früh erkennbaren Begabungen, Lern-Potenzialen.
Volksschule „produzierte“ die notwendige Arbeiterschaft, die Realschulen das Verwaltungspersonal und die Gymnasien die Führungsriege der Gesellschaft.

 

Gelernt wurde in allen Schulformen im Gleichschritt von Inhalt, Methode und Zeit. Lernende, die in diesem Rhythmus nicht mitkamen, wurden wieder selektiert, um die vermeintliche Homogenität der Lerngruppe aufrecht erhalten zu können. Dieses Verfahren hatte die mittlere Begabungsgruppe einer jeden Lerngruppe im Auge und konnte im Industriezeitalter hinreichend Fachkräfte für die Gesellschaft bereitstellen. Die Problemschüler im unteren und oberen Leistungsspektrum fanden kaum Beachtung.
Lernende im unteren Leistungsspektrum bekamen durch Wiederholungen ja eine „zweite“ und eventuell „dritte Chance“. Lernende aus dem oberen Leistungsspektrum, die sich langweilten und dann meist auch störten,wurden als Schulverweigerer oder Störenfriede ebenfalls vom System aussortiert und mussten eigene Wege suchen. Die Frage nach der Gerechtigkeit in diesem System kam nicht auf.

 

Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841) sah in der „Verschiedenheit der Köpfe“ das zentrale Problem des Unterrichts, und Ernst Christian Trapp ( 1745 – 1810) hat dazu den Vorschlag gemacht, den Unterricht auf die „Mittelköpfe“ auszurichten. Diese Zielsetzung führte dann konsequenterweise zu Zurückstellungen am Schulbeginn, Sitzenbleiben im Klassenverband bei Leistungsdefiziten, Sonderschul- Förderschul-Überweisungen bei Behinderungen und Abschulungen im dreigliedrigen Schulsystem.


Die Weimarer Verfassung bestimmte zunächst in Artikel 145: „Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens

acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre.“ (WRV; zit. nach Abdruck in: Scheibe 1965, 55ff.)

Mit der Weimarer Verfassung und dem Grundschulgesetz wurde das bis heute in Deutschland übliche dreigliedrige Schulsystem etabliert.


 
                     Abbildung 4: Struktur-Architektur des deutschen Schulsystems (Quelle: s. URL)

 

Da die Lehrkräfte das einmal erworbene Wissen und Können im Laufe ihres Berufslebens im Unterricht nur immer reproduzieren mussten, war eine systematische Fortbildung nicht notwendig, also auch nicht eingeplant. Individuelle Förderung, die seit 2006 in §1 des Schulgesetzes inNRW verankert ist,  war ebenfalls nicht im Fokus der Bildungs-Bürokratie. Der Umgang mit auftretenden Defiziten bei Schülerinnen und Schülern wurde durch Selektion „gelöst“, wurde auf das Individuum der Schülerin/des Schülers verlagert, nicht dem System angelastet.

 

Mit dieser Schul-Architektur gelang es in der Vergangenheit hinreichend Humankapital zu bilden, um die Gesellschaft zu stabilisieren.

 

Das heutige Verständnis vom Lernen und Lehren

 

Seit PISA und allen anderen bildungspolitischen Ereignissen hat sich ein stärker konstruktivistisch geprägter Lernbegriff in weiten Kreisen der politisch Verantwortlichen durchgesetzt.

Wir wissen heute sicher und vielfach empirisch belegt:
‚Nicht alle Schülerinnen und Schüler lernen gleich leicht, gleich schnell, gleich gern und auf die gleiche Art und Weise Lerninhalte und erzielen nicht den gleich großen Ertrag aus dem standardisierten Lernprozess.

Erfolgreiches Lernen wird heute als eigenaktiver, konstruktiver Prozess des Wissenserwerbs verstanden, sehr emotional dominiert und stark  abhängig von sozialen Prozesse und kommunikativen, interaktiven Strukturen.

 

 

Dabei wissen alle wichtigen Akteure im Bildungssystem welche Merkmale die Schule der Zukunft aufweisenmuss.

 

Andrea von Hohenthal zitiert in ihrer Masterarbeit an der Fernuni Hagen, Ergebnisse der Hirnforscher Renate Nummela Caine und Geoffrey Caine, die als gesichert gelten können und eine Relevanz für die Ausgestaltung schulischen Lernens haben.

„Den zwölf Lernprinzipien von Caine und Caine, die im Folgenden beschrieben werden, liegen Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften zugrunde, sie sollen das theoretische Grundgerüst darstellen:

1. Das Gehirn ist ein lebendiges System; es kann beeinflusst, aber (von der Lehrkraft) nicht bestimmt werden.

2. Das Gehirn bzw. der Geist ist auf Sozialverhalten hin ausgerichtet. Sozialbeziehungen beeinflussen den Lernprozess in hohem Maße.

3. Die Suche nach Sinn ist angeboren, d.h. je mehr der Lernstoff für den Lernenden sinnvoll erscheint, umso effektiver ist der Lernprozess.

4. Die Suche nach Sinn geschieht durch die Bildung von (neuronalen) Mustern.

5. Bei der Musterbildung spielen Emotionen eine entscheidende Rolle.

6. Jedes Gehirn nimmt das Ganze und die Einzelteile parallel wahr und erschafft gleichzeitig beides neu.

7. Zum Lernen gehören die gerichtete Aufmerksamkeit sowie die periphere Wahrnehmung. Das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung hat große Bedeutung für Erziehung und Bildung.

8. Am Lernvorgang sind stets bewusste und unbewusste Prozesse beteiligt.

9. Jeder Mensch besitzt mindestens zwei verschiedene Arten, Gedächtnisinhalte zu ordnen.

10. Lernen ist entwicklungsbedingt.

11. Komplexe Lernprozesse werden durch Herausforderung gefördert und durch Angst und Bedrohung verhindert, was mit einem Gefühl der Hilflosigkeit oder Erschöpfung verbunden ist. Besonders drei interaktive Elemente sind wichtig, „die für gelenkte Erfahrungen innerhalb eines sinnvollen Unterrichts unbedingt notwendig sind“:
-entspannte Aufmerksamkeit (relaxed alertness):

Damit ist eine Atmosphäre gemeint, in der sich der Schülerinnen und Schüler sicher, zuversichtlich und intrinsisch motiviert und einer Herausforderung gewachsen fühlt. Besonders ein Gefühl der Hilflosigkeit sollte vermieden werden.

-Geordnete Vertiefung (orchestrated immersion):
       Die Unterrichtseinheiten sollten in die aktuelle Lebenswelt des Schülers
       eingebettet werden.

-Aktive Verarbeitung (active processing):
       Damit ist die „Konsolidierung und Internalisierung von Informationen und
       Handlungsweisen gemeint, die für den Lernenden persönlich bedeutsam
       und vom Konzept her folgerichtig ist. In diesem Konzept soll vor allem
       sinnvolles Lernen ermöglicht und Wissen als dynamisches Wissen
       vermittelt werden.

12. Jedes Gehirn ist einzigartig.“

 

Eine Gesellschaft im 21. Jahrhundert, im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung braucht es eine andere Schule, da reicht eine Schul-System-Struktur aus dem 19. Jahrhundert, aus der beginnenden Industriellen Revolution nicht mehr aus! Schule ist ein Teilsystem der Gesellschaft, die Elemente müssen  zueinander passen, wenn die Gesellschaft sich weiter entwickeln will! Im Kaiserreich waren Unterordnung und Pflichterfüllung wichtige Erziehungsziele, heute brauchen wir alle kreative Köpfe, um die Probleme der Zukunft lösen zu können!

Gelingende Schule wird maßgeblich von der Unterrichts-Qualität beeinflusst! Diese Qualität hängt sehr stark von der beruflichen Professionalität (Visionen, Einstellungen ) der Lehrkräfte ab.

Digitalisierung wird oft als Lösungsweg beschrieben, aber man muss wissen, dass durch die Digitalisierung nur ohnehin schon guter Unterricht  nur weiter verbessert, interessanter gestaltet werden kann!

 

Alle im System Schule Agierenden wissen eigentlich, was eine leistungsfähige Schule bräuchte!

Wir brauchen mehr Personal, besser ausgebildet, besser bezahlt, wir brauchen ein Arbeits-Zeitmodell, das die wichtigen beruflichen Tätigkeiten  (Unterricht, Fortbildung, Vorbereitung/Nachbereitung, Kommunikation mit den Lernenden und den Erziehungsberechtigten) angemessen erfasst,  bewertet  und eine Struktur-Reform (mehr Autonomie in den Schulen, flexible Zeitfenster, Variabilität der Unterrichts-Formate, flexible, variable  Raum-Strukturen, materielle Ausstattung („state of the art“), die dem technischen Standard der Gesellschaft im 21. Jahrhundert entspricht!

 

Die Schul-System-Architektur muss sich  erheblich verändern.

Hier sind einige wichtige, allseits bekannte Aspekte:

1.Flexibilität und Anpassungsfähigkeit:
Moderne Schularchitektur muss großen Wert auf Flexibilität und Anpassungsfähigkeit legen. Die Räume sind so konzipiert, dass sie sich an verschiedene pädagogische Ansätze und Lernstile/Lehr-Lern-Formate anpassen können. Flexible Möbel und Raumgestaltung ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern, in verschiedenen Konfigurationen zielführend zu arbeiten, sei es in Gruppen, einzeln oder im Plenum. 
2.Technologieintegration:
Moderne Schulen sind mit modernster Technologie ausgestattet, um das Lernen zu unterstützen. Es gibt Zugang zu Computern, Laptops, Tablets und anderen digitalen Geräten. Die Klassenzimmer sind oft mit interaktiven Whiteboards oder großen Bildschirmen ausgestattet, um Lernen durch Einsatz multimedialer Medien zu unterstützen und zu bereichern. 
3.Offene Lernumgebungen:
Statt traditioneller Klassenzimmer mit festen Wänden gibt es heute oft offene Lernumgebungen. Dies ermöglicht eine bessere Zusammenarbeit und Interaktion zwischen den Schülerinnen und Schülern. Es gibt auch Gemeinschaftsräume, in denen Schüler unterschiedlicher Altersgruppen zusammenkommen können, um zu lernen und voneinander zu profitieren. 
4.Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein:
Moderne Schularchitektur legt großen Wert auf Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein. Schulgebäude sind energieeffizient gestaltet, mit umweltfreundlichen Materialien und Technologien wie Solarpanels, Regenwassernutzung und effizienter Heiz- und Kühlsystemen. Es gibt oft auch Grünflächen und Gärten, um eine Verbindung zur Natur herzustellen. 
5.Inklusion und Barrierefreiheit:
Moderne Schularchitektur stellt sicher, dass alle Schüler, unabhängig von ihren individuellen Bedürfnissen, am Unterricht teilnehmen können. Es gibt barrierefreie Zugänge, Aufzüge, spezielle Räume für Schüler mit besonderen Bedürfnissen und andere Anpassungen, um eine inklusive Lernumgebung zu schaffen. 
Diese Anforderungs-Merkmale zeigen, wie die heutige Schul-System-Architektur den sich verändernden Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler entgegen steht.

Die Schule der Zukunft, in der Schülerinnen und Schüler gerne lernen, kann auf verschiedene Weisen beschrieben werden. Hier sind einige Merkmale, die oft mit einer solchen Schule in Verbindung gebracht werden:

1.Individualisierung:
Die Schule ermöglicht es jeder Schülerin, jedem Schüler ein eigenes Lerntempo und  eigenen Interessen zu verfolgen. Jeder Lernende hat die Möglichkeit, seinen eigenen Lernweg zu gestalten und wird dabei unterstützt, seine Talente und Stärken zu entdecken und weiterzuentwickeln. Mehr Förderung, weniger Selektion  
2.Aktives Lernen:
Die Schüler werden ermutigt, aktiv am Unterricht teilzunehmen und ihre eigenen Fragen zu stellen. Der Unterricht ist interaktiv und praxisorientiert, mit Projekten, Gruppenarbeit und praktischen Erfahrungen, um das Lernen lebendig und relevant zu gestalten. Mehr Interaktivität, weniger Rezeption 
3.Technologieintegration:
Moderne Technologien werden sinnvoll in den Unterricht integriert, um das Lernen zu unterstützen und zu erweitern. Digitale Tools, Online-Ressourcen und virtuelle Lernumgebungen ermöglichen den Schülern, auf vielfältige Weise zu lernen und sich mit anderen zu vernetzen.Technikausstattung gemäß state of the art“ von Wissenschaft und Technik 
4.Soziales und emotionales Lernen:
Die Schule legt großen Wert auf die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen. Schüler lernen, wie man effektiv kommuniziert, zusammenarbeitet, Konflikte und Probleme löst und empathisch ist. Es wird ein positives und unterstützendes Lernumfeld geschaffen, in dem sich die Schülerinnen und Schülerwohlfühlen und gegenseitig respektieren. Miteinander statt Gegeneinander 
5.Flexibilität und Anpassungsfähigkeit:
Die Schule ist offen für Veränderungen und passt sich den individuellen Bedürfnissen und dem sich wandelnden Umfeld an. Es gibt Raum für Experimente, neue Ansätze und Innovationen, um sicherzustellen, dass die Schüler auf die Anforderungen der heutigen Gesellschaft vorbereitet sind. Beständig ist nur der permanente Wandel 
Natürlich kann die Schule der Zukunft noch viele weitere Merkmale haben, aber diese Punkte geben eine allgemeine Vorstellung davon, wie eine Schule aussehen könnte, in der Schüler gerne lernen.

Einige „Stellschrauben“ eines zielführenden Veränderungs-Prozesses:


1.  Mehr Autonomie für die Schulen hinsichtlich der

 - Finanzen,

 - Personalausstattung und Personal-Förderung

 - Sach-Technik-Ausstattung gemäß dem Stand von Wissenschaft und Technik
           (state of the art)

2. Neuordnung der Lehrer-Arbeitszeit gemäß EuGH aus 2019

3. Neuordnung der Fortbildung: Weg von der Angebots-Orientierung hin zur Nachfrage- Orientierung und Unterstützung im alltäglichen Prozess

4. Neuordnung der Lehrer-Ausbildung als duale Ausbildung

5. Helfende Begleitung der beruflichen Einstiegsphase von Lehrkräften (Novizen-Support)

 

Wir brauchen früh greifende Systeme zur Defizit-Kompensation bei Schülerinnen und Schülern und Support-Systeme (Tutoren) im Lernprozess, um jeden jungen lernenden Menschen im Rahmen seiner Potenziale auch fördern zu können und ihm zu zeigen, dass die Gesellschaft ihm eine Wertschätzung entgegen bringt.

Wir brauchen eine Lehrer-Ausbildung als duale Ausbildung mit einer stärkeren Verzahnung von Theorie und Praxis.

Z.B.:

Gliederung des Lehramt-Studiums:

BA mit 6 Semester, davon 4 praktisch, 2 universitär

MA mit 4 Semester, davon 2 praktisch, 2 universitär

 

Die gesamte Bildungs-Landschaft in der Bundesrepublik steht vor einer riesigen Transformations-Aufgabe bei fortwährendem Personalmangel.

Das deutsche Schulportal der Robert Bosch Stiftung schreibt in einem Artikel vom 5. Dezember 2023:(https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/lehrermangel-bleibt-bundesweit-ein-problem/)
„Der Lehrermangel verschärft sich weiter.  (…) Auch bis zum Dezember ist es in vielen Bundesländern nicht gelungen die Personallücke an Schulen zu schließen. Allein Nordrhein-Westfalen meldete am 4. Dezember noch 7.100 unbesetzte Lehrerstellen, im Juni waren 6.700 Stellen offen.

Bundesweit geben 50 Prozent der befragten Schulleitungen an, dass mindestens eine der eigentlich zur Verfügung stehenden Lehrkräftestellen an der Schule zum Beginn des laufenden Schuljahres nicht besetzt war. Das geht aus der Schulleitungsbefragung des Verbands Bildung und Erziehung vom 24. November 2023 hervor. Im Durchschnitt fehlten den Schulen, die mit unbesetzten Stellen zu kämpfen haben, 11 Prozent der eigentlich zur Verfügung stehenden Lehrkräfte. An 3.500 Schulen fehlen sogar mehr als 15 Prozent der Lehrkräfte. Am stärksten betroffen sind Grundschulen und Förderschulen.

66 Prozent der Befragten geben an, dass sie an der Schule Personen beschäftigen, die keine Lehramtsqualifikation erworben haben. Diese Zahl hat sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt.“

 

Die Kultusministerin in NRW, Frau Feller, reagierte auf die öffentlichen Klagen hinsichtlich des Personalmangelsan den Schulen in NRW mit der Maßgabe, dass sie die Teilzeitgenehmigungen zurückfahren will und vermehrt Quereinsteiger gewinnen will.

Im Klartext heißt das für die Lehrkräfte wieder einmal: Mehrarbeit ohne Bezahlung!

 

Dass die Arbeitszeit von Lehrkräften heute längst nicht mehr dem gängigen Vorurteil entspricht, haben schon mehrere Untersuchungen eindeutig belegt.

Der Bildungsexperte Mark Rackles fasst die Forschung zur Lehrerarbeitszeit folgendermaßen zusammen:


Seit Jahrzehnten überschreitet ein Großteil der Lehrerinnen und Lehrer die tariflich vereinbarte Arbeitszeit – das gilt auch, wenn man die Arbeitszeit nicht nur auf die Schulwochen, sondern auf das ganze Jahr bezieht. Nicht wenige Lehrkräfte arbeiten regelmäßig mehr als 48 Stunden in einer Woche und verstoßen damit gegen den gesetzlichen Arbeitsschutz – mit deutlichen Folgen für die Gesundheit.


 

             
         Abbildung: Wieviel Lehrkräfte arbeiten (Quelle: Telekom-Studie 2023)

 

Viele Teilzeit-Lehrkräfte würden durchaus Arbeitszeit aufstocken, stellt die GEW in einer Studie vom September 2023 fest.  Größtes Hindernis: das Deputats-Modell!
Das Deputats-Modell ist eine der ganz wesentlichen Barrieren im notwendigen Transformationsprozess und muss vorrangig gelöst werden.

In diese Problematik platzte eine Entscheidung des Europäische Gerichtshofes.

Im Jahr 2019 fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das sogenannte Stechuhr-Urteil: Die Mitgliedstaaten müssen die Arbeitgeber dazu verpflichten, ein objektives und verlässliches System zur Messung der täglich geleisteten Arbeitszeit einzuführen.

Die Mitgliedstaaten müssen ...

„die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“.(EuGH 14.5.2019-C-55/18)

Diese Verpflichtung der Politik  enthält eine sehr, sehr große Sprengkraft für die gesamte, bestehende Bildungslandschaft in Bund und Land.

Es müssen nun Antworten gefunden werden zum Beispiel auf die folgenden Fragen …

- Welche Aufgaben haben Lehrkräfte konkret  im Ausbildungs- und Erziehungsprozess?

- Wie hoch wird der Anteil des Unterrichts an der Gesamtarbeitszeit pro Woche angesetzt?

- Müssen Lehrkräfte Pausenaufsichten ausführen oder die Computer-Systeme der Schule
betreuen?

- Müssen Lehrkräfte Stundenpläne erstellen und Vertretungsunterricht organisieren?

- Wie hoch wird der Anteil für die Beratungs- und Betreuungsarbeit von Schülerinnen und
 Schülern, von Eltern, von Erziehungsberechtigten und Absprachen mit den
 Ausbildungsbetrieben festgelegt.

- Wie werden Integrations-, Inklusions-, Förder-Aufgaben in stark heterogenen
 Klassenverbänden arbeitszeitmäßig bewertet?

- Wie wird die Mitarbeit an Prozessen der Schul- und Unterrichts-Entwicklung
 arbeitszeitmäßig gewichtet?

- Welchen Anteil an der wöchentlichen Arbeitszeit wird für Fortbildung angerechnet?

- Wieviel Zeit gesteht man Lehrkräften zu für Vor- und Nachbereitung von Unterricht?

- Wieviel Zeit wird für Korrekturen in den einzelnen Fächern vorgesehen?

- Wieviel Zeit wird vorgesehen für Arbeit in der Unterrichts- und Schulentwicklung?

- Wieviel Zeit wird für Kontakte zu außerschulischen Partnern und für Klassenfahrten und
Schullandheim-Aufenthalte vorgesehen?

- Wie vergütet man unvermeidliche Mehrarbeit, etwa bei längeren Beratungsgesprächen
 mit Schülern/Eltern, bei Klassenfahrten oder Studienfahrten?

- Wie kann man Fortbildung als notwendige Unterstützung im Lehr-Prozess organisieren und etablieren?

Pflicht zur Umsetzung des EuGH-Urteils

Allerdings legte das EuGH-Urteil keinen zeitlichen Rahmen für die Umsetzung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung fest. Doch seitdem das Bundesarbeitsgericht im September 2022 in seinem Grundsatzurteil das europäische Urteil für Deutschland konkretisierte, führt kein Weg daran vorbei: Die Arbeitszeiterfassung kommt.

Aber kommt sie auch für Lehrkräfte?

Die Kultusministerkonferenz setzte sich bereits für eine Ausnahmeregelung für Lehrerinnen und Lehrer ein!
Die Kultusministerkonferenz (KMK) pocht auf eine Ausnahmeregelung. Nachdem das Bundesarbeitsministerium im April einen Referentenentwurf zur Arbeitszeiterfassung vorgelegt hatte, forderte KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU) Medienberichten zufolge im Juli in einem Brief an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Lehrkräfte von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auszunehmen. Sie kritisiert, dass der Referentenentwurf die „besondere Situation der Lehrkräfte“ nicht berücksichtigt. Messbar, so Günther-Wünsch, sei nur die Arbeitszeit für die erteilten Unterrichtsstunden, während die außerunterrichtlichen Aufgaben wie Vor- und Nachbereitung, Konferenzen oder Elternarbeit vom Arbeitgeber nicht vorhersehbar und überprüfbar seien.

Warum eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für die Kultusministerien unangenehm sein könnte, liegt auf der Hand. Zum einen müssten sich die Behörden mit arbeitsschutzrechtlich grenzwertigen Situationen auseinandersetzen, wie zum Beispiel der Begleitung von Klassenfahrten, bei denen Lehrkräfte häufig die Höchstarbeitszeiten überschreiten und die Mindestruhezeiten unterschreiten. Zum anderen hätten Lehrkräfte das Recht, die erfassten Überstunden nachträglich abzubauen. Wie das gehen sollte, bleibt offen. Denn um Unterrichtsdeputate abzusenken, fehlen die Lehrkräfte. Bleiben die unterrichtsfremden Aufgaben wie Verwaltungsaufgaben, Aufsichten oder die Organisation von Veranstaltungen. Hier könnten Schulverwaltungsassistenzen, Lehramtsstudierende oder auch Fachpersonal für multiprofessionelle Teams Abhilfe schaffen.

 

Was sagt das Bundesarbeitsministerium zur KMK-Forderung?
Das Arbeitsministerium erteilte der KMK-Präsidentin eine Absage: „Der Umstand, dass der konkrete Umfang der Arbeitszeit nicht in jedem Fall im Voraus feststeht, steht einer nachträglichen Dokumentation am Ende des Arbeitstages nicht entgegen“, so die Antwort des Ministeriums. Der Referentenentwurf sieht vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit selbstständig und elektronisch erfassen können. Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten seien bereits heute von Lehrkräften einzuhalten, so das Ministerium, die Nachteile einer Zeiterfassung daher nicht ersichtlich.

Auch den Einwand der KMK, das Urteil des Bundesarbeitsgerichts gelte zwar für angestellte, nicht aber für verbeamtete Lehrkräfte, was zu einer Ungleichbehandlung führe, weist das Arbeitsministerium zurück: „Das vom [Bundesarbeitsgericht] in Bezug genommene Arbeitsschutzgesetz findet auf Beamtinnen und Beamte Anwendung.“ Mit anderen Worten: Der Arbeitnehmerbegriff des Europäischen Gerichtshofs schließt auch verbeamtete Lehrkräfte mit ein, der Arbeitsschutz macht vor dem Beamtentum nicht halt. Der Bildungsjournalist Jan-Martin Wiarda sieht in dem Antwortschreiben des Arbeitsministeriums eine klare Botschaft: „Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt nach Auffassung des Ministeriums schon heute umfassend für alle Lehrkräfte in den Schulen, die Kultusministerien müssten sie jetzt umsetzen.“

Wie reagieren die Lehrerverbände?
Der Philologenverband in Baden-Württemberg bereitet eine Klage gegen das Land vor. „Wir wollen, dass die Arbeitszeit der Lehrkräfte endlich mal zuverlässig erfasst wird“, sagt der Vorsitzende Ralf Scholl.

Andere Lehrerverbände wollen Druck aufbauen, indem sie eigene Arbeitszeitstudien durchführen. In Berlin läuft seit Schuljahresbeginn eine groß angelegte, einjährige Studie, die von der GEW unterstützt wird. Mehrere Tausend Lehrkräfte erfassen dafür minutengenau ihre Arbeitszeit. Eine ähnliche Studie ist für die zweite Schuljahreshälfte in Hamburg geplant.

Es dürfte klar geworden sein, welch „heißes Eisen“ da auf die Politik wartet und weshalb es bisher nicht aufgegriffen wurde.
Politiker wissen nur zu genau, dass man mit bildungspolitischen Themen nur  Wahlen verlieren kann, aber keine gewinnen!
Bildungspolitik wirkt in längeren Zeiträumen, überschreitet Wahlperioden und ist mit keine sichere „Bank“ für eine Wiederwahl.

 

Die bestehende Bildungs-Bürokratie (Schulämter/Bezirksregierungen) präferiert stärker zentralistische Strukturen, empfindet stärkere Autonomie der Schulen als eigenen Machtverlust.

 

Die pädagogische Wissenschaft (Erziehungswissenschaft) kümmert sich vorwiegend um  Effektivität von Unterricht, statt Lehren und Lernen wissenschaftlich zu unterstützen.
 

Die bürgerliche Mittelschicht hat wenig Interesse an größerer, sozialer Gerechtigkeit, das schmälert die Chancen der eigenen Nachkommen durch eine mögliche, größere Konkurrenz.

 

 „Bildungsferne Schichten“ haben andere Prioritäten in ihrem Leben, empfinden oft ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber Bildungs-Institutionen und bleiben passiv.

 

 

Doch diese Hindernisse müssen überwunden werden, denn normative Vorgaben – das Recht auf individuelle Förderung, auf gleiche Teilhabe ohne Benachteiligung und der Umsetzungs-Zwang des EuGH-Urteils lassen sich nicht langfristig ignorieren.

 

Der EuGH hat in seiner Entscheidung in der Rechtssache CCOO vom 14. Mai 2019
(Rs. C-55/18) der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG=ArbZ-RL) eine Pflicht des Arbeitgebers zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers entnommen. Die Mitgliedstaaten müssen:

„die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“.

 

„Erforderliche Maßnahmen“

Diese Vorschriften sehen vor, dass die Mitgliedstaaten die „erforderlichen Maß- nahmen“ ergreifen, um die in den Art. 3, 5 und 6 der ArbZ-RL geregelten Mindeststandards hinsichtlich der täglichen Mindestruhezeit von elf Stunden (Art. 3 ArbZ-RL), der wöchentlichen Ruhezeit (Art. 5 ArbZ-RL) und der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit (Art. 6 ArbZ-RL) zu gewähren.

Anforderungen des EuGH an das System der Arbeitszeiterfassung

Der Arbeitgeber muss ein System zur Arbeitszeiterfassung einrichten.

a) Mindestanforderung: System

„Das System muss die tägliche Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers messen. Zweck dieses Systems muss es sein, die Einhaltung der werktäglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten sowie der wöchentlichen Höchstarbeitszeit sicherzustellen. (...)

b) Pflicht zur Einführung des Systems

Das erfordert, dass jeder Arbeitgeber über organisatorische Regeln zur Arbeits- zeiterfassung verfügen muss. Die Mitgliedstaaten müssen daher eine Pflicht des Arbeitgebers vorsehen, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen.“
(Quelle: HSI-Schriftenreihe S. 34 ff)

 

Wann greift nun die Bildungs-Politik diese Problematik endlich auf und eröffnet dazu den gesellschaftlichen Diskurs, um möglichen Lösungen den Weg zu bereiten?

Es geht nicht um wenig, es geht um die Zukunft unserer Gesellschaft!

Der durch das EuGh-Urteil ausgelöste Druck auf die Verantwortlichen sollte genutzt werden, um strukturverändernde Maßnahmen in Angriff zu nehmen.

Die neue Arbeitszeiterfassung zwingt zu so grundlegenden Änderungen, so dass man nicht umhin kommt, das gesamte System zu reformieren.

Das Ziel einer notwendigen Struktur-Reform ist allen am Prozess Beteiligten ziemlich klar, der Weg dorthin noch nicht!

Lassen Sie uns den Diskurs darüber eröffnen und schaffen wir gemeinsam neue Perspektiven für das deutsche Bildungs-System!


Ein „Weiter so!“ wäre fatal!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Benutzte Quellen

Hartmut Meyer-Wolters: „Evidenzbasiertes pädagogisches Handeln“ (2011)

„Schule zukunftsfähig machen“, Cornelsen Schulleitungsstudie 2022

Verordnung zur Ausführung des §93 Abs. 2 Schulgesetz, Fassung vom 9.5.2016

Daniel Uber: „Vorgaben des EuGH zur Arbeitszeiterfassung“ HSI-Schriftenreihe Band 32, Bund-Verlag 2020

AG-Bildungsforschung der Uni Essen: „Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems“, Skriptum zur Einführungsvorlesung in den Studienbereich „D“, Stand: 15. Mai 2000

Artikel aus: www.news4teachers.de/2022/

Deutsches Schulportal der Robert Bosch Stiftung mit verschiedenen Publikationen

Online-Infos aus: www.sofatutor.com

 

Heinz-Elmar Tenorth, „ Geschichte der Erziehung“  Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung 4., erweiterte Auflage 2008

Deutsches Institut für Menschenrechte, „Das Menschenrecht auf Bildung im deutschen Schulsystem“

Was zum Abbau von Diskriminierung notwendig ist, Mareike Niendorf | Sandra Reitz, Sept. 2016

„Lehrkräfte-Arbeitszeit in Deutschland  Veränderungsdruck und Handlungsempfehlungen“, Mark Rackles, Expertise im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung, Berlin, April 2023

Frank Mußman, „Arbeitszeitenmi Lehrerberuf  Plädoyer für eine Stärkung der pädagogischen Kernbereiche“ in: Heft PÄDAGOGIK 2/10, S. 42 ff

Stephan A. Jansen mit Micael Ebmeyer, „Die Befreiung der Bildung“, Nicolai Publishing, Berlin 2018

 

 

   
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